Grossvater hatte beschlossen, seiner Enkelin Lea-Marie die Geschichte von der Geburt des Christkinds im Stall von Bethlehem zu erzählen. Zwar erschien ihm Lea-Marie noch ein bisschen jung, um das Heilsgeschehen voll zu begreifen. Aber da das Mädchen einen ungewöhnlich grossen Gefallen an der Weihnachtskrippe gefunden hatte und Stunden davor zubringen konnte, meinte Grossvater, es sei vielleicht doch an der Zeit, zumal am Hochfest vom Weihnachtstag selber im Gottesdienst der Prolog des Johannesevangeliums als Weihnachtsbotschaft verkündet wird („Im Anfang war das Wort … und das Wort war Gott … Und das Wort ist Fleisch geworden“).

«Setz dich zu mir, Lea-Marie », sagte er. «Ich will dir eine Geschichte erzählen. Keine aus dem Märchenbuch, sondern eine, die wirklich wahr ist. Hör gut zu: Es war zu der Zeit, als Kaiser Augustus … »

«Was ist ein Kaiser, Grosspapi?», unterbrach ihn die Enkelin.

«Also, ein Kaiser, das ist ein Mann, der ganz viel zu sagen und zu bestimmen hat, über viele Leute, man sagt diesen Untertanen… »

«So wie der Papst?», fragte Lea-Marie. «Der Papst ist doch dein Chef!» Grossvater erzählte manchmal von früheren Päpsten, wie sie dies und jenes anordneten, das ihm nicht recht passte.

«Na ja», sagte Grossvater etwas verlegen, «ein Kaiser ist schon viel mächtiger als der Papst.»

«Und du, Grosspapi, bist du ein Untertan?»

«So kann man das nicht sagen», wehrte der Grossvater ab und schüttelte sich beim Gedanken an dieser Bezeichnung.

«Also, Kaiser Augustus wollte einmal wissen, wie viele Menschen in seinem Reich leben, und beschloss: die muss man zählen. Jeder musste in seinen Heimatort gehen, und sich dort melden. Da ging auch ein Paar, die hiessen Maria und Josef, in die Stadt Bethlehem, wo Josefs Eltern zu Hause gewesen waren.»

«Maria heisst Frau Meier, die Mami manchmal ihre Kleider umändert.» Grossvater überhörte den Einwurf und wollte weitererzählen, aber Lea-Marie fragte plötzlich: «Wann war denn das, das mit dem Kaiser und dem Zählen?»

«Das ist sehr, sehr lange her.»

«Noch bevor Mami ins Spital musste?»

«Lange vorher. Also weiter. Maria erwartete ein Kind, und der weite Weg nach Bethlehem fiel ihr sehr schwer.»

«Konnten sie denn nicht mit dem Flugzeug fliegen oder mit der Eisenbahn fahren?»

«Flugzeuge und Eisenbahnen gab es damals nicht. – Als sie in Bethlehem angekommen waren, sie waren sehr, sehr müde, suchten sie einen Platz in einer Herberge.»

«Was ist eine Herberge?»

«So etwas wie ein Hotel», sagte Grossvater und hatte das Gefühl, sich einer unmöglichen Aufgabe unterzogen zu haben. Aber nun hatte er einmal angefangen und musste das auch durchstehen.

«Schliesslich durften sie in einem Stall übernachten.»

«Was ist ein Stall?»

«So etwas wie eine Garage. Nur sind da keine Autos drin, sondern Tiere, Ochs und Esel.»

«Einen Esel kenne ich vom Tischleindeckdich!»

«In der Nacht wurde das Kind geboren. Es war ein sehr schönes und liebes Kind, das Christkind. Es hatte alle Menschen gern; dich, mich und auch die Leute in in den Kriegsländern. Eben alle.»

«Auch die bösen?»

«Ja, auch die bösen. Die besonders, denn es wollte, dass sie wieder gut werden.»

Uff, das wäre geschafft. Grossvater hatte das Gefühl, einen riesigen Stapel Holz gesägt zu haben, und verzog sich ins Nebenzimmer, um ein bisschen auszuruhen.

Eine Stunde später öffnete er die Tür zum Kinderzimmer, in dem es ungewöhnlich still war. Da sass Lea-Marie, hatte ihr junges Kätzchen Kitty auf dem Schoss und sagte:

«Kitty, ich muss dir eine wahre Geschichte erzählen, hör gut zu. Bevor wir nach Gossau zogen, wollte doch ein Kollege vom Papst seine Untertanen zählen. Alle mussten dorthin ge­hen, wo ihr Vater zu Hause gewesen war. Sie gingen zu Fuss, weil kein Flugzeug flog und keine Eisenbahn fuhr, wahrscheinlich war Streik. Auch Josef und Maria, wahrscheinlich Frau Meier, gingen nach Bettlerheim. Das war schlimm, denn Maria kriegte ein Baby. In Bettlerheim gab es in der <Traube> und im <Sternen> keinen Platz mehr. Da mussten sie in einer Garage übernachten, wo ein Ochs und ein Esel wohnten. In der Nacht wurde das Kind geboren. Es war das Christkind und es hatte alle Leute lieb, Papi und Mami und auch Herrn Hufnagel, der immer mit mir schimpft, wenn mein Ball in seinen Garten fliegt, und der immer die Zweige von unserem Kirschbaum abschneidet, die zu ihm rüberhängen.»

Dem Grossvater, der mit allerlei Skru­pel und Bedenken zu kämpfen hatte, als er· diese etwas seltsame Weihnachtsgeschichte hörte, wurde es auf einmal froh und leicht ums Herz. Zwar hatte Lea-Marie Orte, Zeiten und Namen völlig durcheinander gebracht, aber das, worauf es ankam, die Botschaft, hatte sie verstanden.

Aber wie stand es mit Grossvater? War es wirklich nötig, dass er und sein Nachbar wegen so geringfügiger Lappalien in einer Dauerfehde miteinander lebten? Einer musste einmal den Anfang machen und Frieden schliessen.

Grossvater packte ein wenig von den guten Weihnachtsguetzli, die Grossmutter gebacken hatte, in eine Tüte, band ein Schleifchen darum und holte eine Flasche Wein aus dem Keller.

«Komm Lea-Marie, wir gehen zu Herrn Hufnagel und wünschen ihm frohe Festtage.»

«Hat dir das Christkind gesagt?» fragte Lea-Marie.

«Da hast du Recht», bekräftigte der Grossvater und läutete ein bisschen zaghaft an der Haustür des Nachbarn. Denn aller Anfang ist schwer – wie das Weihnachtsevangelium des grossen Johannes: vom Anfang, dem Wort, Gott, in dem das Leben, das Licht, die Liebe ist und zur Welt kam, als Mensch.

Schalom vom Himmel, Frieden auf Erden.