Der kleine Engel, glücklich zurück im Himmel

Unser kleiner Engel entsprach keinesfalls dem gängigen Idealbild: Er hatte rabenschwarzes Haar und Zornesfalten im geröteten Gesicht. Niemand sah ihm an, dass er ein himmlisches Geschöpf war, denn er trug auch keine Flügel. So ging unser kleines Kerlchen durch die weihnachtlich beleuchteten Strassen der Stadt. Müsste dieser Himmelsbote nicht eigentlich Frieden und Freude verbreiten?

Er maulte vor sich hin: «So n’ Mist – wie soll ich nur in den Himmel zurückkommen ohne Flügel?» Beim Stichwort «Himmel» drehte sich ein junger Mann zu ihm um: «Nimmst du Bürschchen etwa schon Drogen?» Der junge Mann sah ziemlich furchteinflössend aus: schwarze Lederhose und Ledermantel, Lederhals- und -armband, T-Shirt mit Totenköpfen drauf. Der kleine Engel war so verzweifelt, dass es aus ihm nur so heraussprudelte: «Ja, Himmel! Wenn ich meine verlorenen Flügel nicht mehr finde, komme ich nie wieder in den Himmel zurück!» – «So was Abgefahrenes habe ich noch nie gehört» meinte der junge Mann. «Doch klar! Ich wollte nur etwas Fussball spielen und legte meine Flügel am Strassenrand ab, wo schon ein paar Sachen lagen. Kannst du mir bitteee suchen helfen?» – «Nee, Kleiner; ich geh in das Metal-Konzert meiner Lieblingsband. Ich hab’ schon wochenlang auf Zigaretten verzichtet, um mir die teuren Eintrittskarten zu leisten. Ich heisse übrigens Michael, meine Freunde nennen mich Mike.» Der Kleine wurde hoffnungsvoller: «Komm, wir schauen, wo ich die Flügel hingelegt habe.» Mike musste stark mit sich kämpfen. Als sie endlich beim Fussballfeld angekommen waren, hatte das Metal-Konzert schon längst begonnen. Mike hatte es schon abgehakt. Er konnte die Verzweiflung des Kleinen nicht mehr mit ansehen. «Hier, bei der alten Matratze und dem kaputten Stuhl hatte ich meine Flügel hingelegt. Jetzt ist alles weg!» Mike dämmerte es: «Die sind in der Müllpresse gelandet! Die kannst du dir abschminken!» Der kleine Engel war am Boden zerstört.

Zum Glück wusste Mike von seinem Onkel, der bei der Müllabfuhr arbeitete, dass sich links beim Eingang der Mülldeponie eine Lücke im Zaun befand. Eine kleine Hoffnung flackerte auf. Dort angekommen, krochen die beiden tatsächlich durch diese Lücke. Dank der Taschenlampe funkelte beim Suchen etwas im herumliegenden Haufen. «Das sind sie, meine Flügel!» jubelte der kleine Engel. «Hilf mir die Flügel anzuziehen und mach sie fest!» bat der kleine Engel seinen Helfer Mike. Und wie er das tat, verschwand der kleine Engel. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Nicht einmal ein mündliches Danke erhielt Mike. Jetzt wurde er richtig sauer. So bemerkte er erst im letzten Moment, dass beim Überqueren der Strasse ein grosser schwarzer Bus auf ihn zufuhr. Zum Glück hatte der ihn nur gestreift, weil der Chauffeur eine Vollbremse tätigte. Doch Mike lag halb ohnmächtig am Boden. Der Busfahrer und seine Insassen holten den leicht Benebelten in den Bus und sorgten sich um ihn. Allmählich begriff Mike, dass er im Tour-Bus seiner Lieblings-Metal-Band gelandet war, die auf der Heimreise nach seinem verpassten Konzert war. Die Musiker schenkten ihm ein Autogramm und eine VIP-Karte für ihr nächstes Konzert und fuhren ihn nach Hause. Mike fühlte sich wie im Himmel. Bevor er daheim ins Haus eintrat, schaute Mike noch kurz nach oben zum Himmel. Ihm dünkte, da ein weisses, ja silbernes Funkeln gesehen zu haben – oder bildete er sich das nur ein?

Alois Schaller, frei nach Anette Friedhoff

Der kleine Engel, glücklich zurück im Himmel